Klarstellung des OGH zum Recht auf Pflichtteilsminderung.
Die Klägerin ist die Tochter eines vorverstorbenen Sohnes der 2017 verstorbenen Erblasserin. Sie macht Pflichtteilsansprüche geltend.
Im Revisionsverfahren hatte der Oberste Gerichtshof (nur mehr) zu prüfen, ob die Erblasserin den Pflichtteil der Klägerin gemäß § 776 Abs 2 ABGB mindern konnte oder nicht.
Die Vorinstanzen bejahten die Möglichkeit zur Pflichtteilsminderung auf Grundlage folgenden Sachverhalts:
Die Klägerin traf mit der Erblasserin seit 1999 oder 2000 nur bei Familienfeiern zusammen, zu persönlichen Gesprächen kam es nicht. Weder die Klägerin noch die Erblasserin bemühten sich um ein Gespräch oder die Aufnahme weitergehenden Kontakts. Teilweise kam es jahrelang aufgrund von Zerwürfnissen der Erblasserin mit ihrem vorverstorbenen Sohn zu überhaupt keinen Kontakten.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin mit folgenden Argumenten nicht Folge.
Nach § 776 Abs 2 ABGB steht das in Abs 1 geregelte Recht auf Pflichtteilsminderung nicht zu, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat.
Das „grundlose Meiden des Kontakts“ durch den Erblasser nach dieser Bestimmung setzt – entgegen der zum alten Erbrecht (§ 773a Abs 3 ABGB idF vor dem ErbRÄG 2015) ergangenen Rechtsprechung – keinen vorangehenden Kontaktaufnahmeversuch des Pflichtteilsberechtigten (mehr) voraus. Auch ohne einen solchen, im Anlassfall nicht vorliegenden Kontaktaufnahmeversuch kann es daher zu einem Ausschluss der Pflichtteilsminderung kommen.
Wenn weder der Erblasser noch der Pflichtteilsberechtigte dem anderen Teil Anlass bzw Grund für den fehlenden Kontakt gegeben haben, stellt das wechselseitige Fehlen eines Kontaktinteresses zwischen Erblasser und erwachsenem Pflichtteilsberechtigten (noch) kein „Meiden“ des Kontakts dar. Das bloß passive Verhalten und fehlende Bemühen um Kontakt führt damit nicht zum Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung.
OGH | 2 Ob 116/22f | 06.09.2022